"Es ist keine schöne Zeit zum Gehen", meint Annette Spieß. Die Regale in ihrem Büro im Schwarzen Weg in Darmstadt sind schon ziemlich leergeräumt. Es sind nur noch wenige Tage, bis ihr neuer Lebensabschnitt im Dezember beginnt. Eine große Feier mit vielen Weggefährt*innen war geplant, wegen Corona nun aber nicht möglich. Gerne hätte sich die Leiterin der Frühberatungsstelle von vielen Menschen persönlich verabschiedet, denn die Vernetzung der Frühberatung mit dem Sozialpädiatrischen Zentrum, dem Gesundheits- und Jugendamt, Kinderärzt*innen und Kindertagesstätten war ihr immer ein wichtiges Anliegen.
Beim Rückblick auf ihre Caritasjahre sind ihr die beiden letzten Jahre mit den enormen Herausforderungen in besonderer Erinnerung. Die letzten Monate wegen Corona und das Jahr davor durch die Beratungsstelle in Pfungstadt in der Fabrikstraße. "Von der Idee bis zur Eröffnung gingen fast fünf Jahre ins Land", so die die Dienststellenleiterin. Nach dem Umbau des denkmalgeschützten früheren Schulgebäudesgalt es alle Räume einzurichten und ein Team bestehend aus Sozial- und Heilpädagoginnen, Physio- und Ergotherapeutinnen sowie Logopädinnen einzustellen. Denn diese arbeiten in der Frühberatung interdisziplinär alle unter einem Dach zusammen. Als die ersten Kinder die neuen Therapieräume mit Leben füllten, sei eine große Last von ihr abgefallen.
Annette Spieß gelang es, die interdisziplinäre Frühberatung in einer Zeit auszubauen, die von Finanzierungsdiskussionen geprägt war. Heute wird die Finanzierung des Angebots zwischen Stadt und Landkreis, Krankenkassen und der Caritas aufgeteilt. Auch wegen des hohen Verwaltungsaufwandes würde sie sich wünschen, dass es in Zukunft nur noch einen Kostenträger geben würde. "Aber ich glaube, daraus wird nichts", meint sie ernüchtert.
Hunderte Kinder und Familien hat Annette Spieß in den vergangenen Jahren kommen und gehen sehen und dabei berührende Geschichten erlebt. Gemeinsam mit ihren beiden Teams mühte sie sich um jede und jeden der kleinen Menschen, die trotz jungen Alters schon schwere Päckchen zu tragen haben. Waren es 2001 noch 151 Kinder und Familien, die Hilfe suchten, so stieg die Zahl bis ins letzte Jahr auf 405. Trotz der neuen Beratungsstelle in Pfungstadt sei die Warteliste leider weiterhin lang. Manche Kinder müssten länger als ein dreiviertel Jahr auf ihre Förderung warten.
Für ihr Team und die ihr anvertrauten Kinder und deren Familien hat Annette Spieß sich immer mit viel Herz engagiert, dafür ist Caritasdirektorin Stefanie Rhein ihr sehr dankbar. Sowohl ihren Mitarbeiterinnen als auch den ihr anvertrauten Kindern und deren Eltern sei sie immer mit viel Achtsamkeit begegnet. "Ihre Führung mit Herz und hoher Fachlichkeit war beeindruckend. Ihr Blick und Schwerpunkt lag immer auf dem, was jeder Mensch mitbringt, nicht auf seinem Handicap. Durch ihr großes Engagement haben Sie so vielen Menschen neue Chancen ermöglicht. Dafür danke ich Ihnen." Eine Atmosphäre des Vertrauens, der Wertschätzung, Achtung und Respekt waren der Dienststellenleiterin bei der Begegnung mit ihrem Team, den Kindern und ihren Eltern immer wichtig. Und nicht nur für die fachlichen auch für die persönlichen Nöte ihrer 20 Mitarbeiterinnen hatte die Diplom-Sozialarbeiterin immer ein offenes Ohr. Auch gab sie ihnen den Raum, neue Ideen in die Tat umzusetzen, war ihr doch selbst der Blick über den Tellerrand sehr wichtig. So kam es auch, dass die Frühförderstelle Darmstadt als einzige deutsche Einrichtung 2011 für zwei Jahre beim europäischen Grundtvig-Programm dabei war oder seit zwei Jahren ein neues tiergestütztes Angebot für Kinder, das sogenannte Ponyhof-Projekt eingerichtet werden konnte.
All dies gilt es nun loszulassen, die Übergabe an Nachfolgerin Alexandra Marx ist geregelt. Die Befürchtung, dass bei ihr nun Langeweile auftaucht, hat die 63-Jährige nicht. Freiberuflich ist sie für einige Stunden die Woche weiterhin als Beraterin tätig aber auch das Malen, ein neues Hobby von ihr, wird eine wichtige Rolle spielen. Und freuen tut sie sich schon aufs Verreisen mit dem Ehemann, wenn Corona dies wieder zulässt.