Als ich mich mit Zin Alabdin im Weihbischof-Guballa-Haus treffe, ist er erst vor wenigen Tagen von dort ausgezogen. Dreieinhalb Jahre war die Jugendhilfeeinrichtung des Caritasverbandes Darmstadt das neue Zuhause von ihm. In sehr gutem Deutsch spricht der junge Mann von seiner Zeit nach seiner Flucht aus Syrien, dem Fremdsein im neuen Land. Aber auch vom Ankommen in Deutschland und von seinen Zukunftsplänen.
Über die Flucht selbst sprechen wir nicht. Er sagt nur, dass es der Wunsch seiner Eltern war, dass die Söhne nach Europa gehen sollten, da der Krieg ihnen in Syrien keine Zukunft ermögliche. Als er es geschafft habe und in Aachen angekommen sei, sei dies eine schwere Zeit für ihn gewesen. Er konnte kein einziges Wort Deutsch, kannte niemanden und ging anfangs kaum aus dem Heim, in dem nur deutsche Bewohnerinnen und Bewohner lebten. Er sei sehr unglücklich gewesen, auch als er die Wohngruppe verlassen durfte und vier Monate im Hotel wohnte. Doch dann kam die erste Wende, da er nach Darmstadt umziehen durfte, weil dort sein älterer Bruder in einer Flüchtlingsunterkunft lebte.
So zog er am 15. August 2016 mit seinen 15 Jahren in das vom Caritasverband Darmstadt im Sommer eröffnete Weihbischof-Guballa-Haus, ein renoviertes Konventhaus des Deutschen Ordens. Da der Caritasverband Darmstadt aufgrund der damaligen Flüchtlingssituation von der Stadt Darmstadt gebeten wurde, in das neu eröffnete Haus unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aufzunehmen und zu betreuen, lebte er dort in einer Gruppe 16- bis 17-jähriger junger Männer aus Afghanistan, Syrien, Eritrea und Marokko. Manche von ihnen hatten im Krieg ihre Familie verloren oder waren Straßenkinder, andere wurden von den Eltern nach Deutschland geschickt. Trotz unterschiedlicher Kulturen kamen alle miteinander aus. „Das Leben im Haus hat gut geklappt, auch wenn wir nicht beste Freunde waren. Manchmal war es auch anstrengend, aber es war gut“, so der ehemalige Bewohner. Für ein gutes Miteinander hätten auch die Betreuerinnen und Betreuer im Haus gesorgt. Drei Schichten, Früh, Tag und Nacht, decken eine 24-Stunden-Betreuung ab. Sechs pädagogische Fachkräfte, eine Hauswirtschaftskraft, eine Gruppenleitung und ein Hausmeister sorgen für Schutz, Fürsorge, Unterstützung und verlässliche Alltagsstrukturen.
So wurde auch das Leben von Zin Alabdin in Darmstadt neu strukturiert: Der Schulbesuch begann. In der Integrationsklasse, eine Intensivklasse an der Gesamtschule, wurde ein starker Fokus auf das Erlernen der deutschen Sprache gelegt. Deutsche Filme und das Sprechen zu vielen Gelegenheiten, auch mit den Betreuerinnen und Betreuern, haben ihm geholfen, sehr schnell die Sprache zu lernen. Das gab Selbstvertrauen und da er so gute Fortschritte machte, konnte er bald die Hauptschule besuchen und schaffte dort im Sommer letzten Jahres seinen Hauptschulabschluss. Der Wunsch, Lokführer zu werden erfüllte sich nach dem Abschluss nicht. Alternativen wurden gesucht und mit dem Entschluss zwei Jahre eine Realschule zu besuchen, um die Mittlere Reife zu machen, auch gefunden.
Steffen Friske ist beim Gespräch dabei. Er war, bis auf die ersten drei Monate, der Bezugsbetreuer von Zin Alabdin und hat seine Sorgen und Nöte, sein Fremdsein und traurig sein, sehr nah miterlebt.
„In der Schule musste er lernen von links nach rechts zu schreiben. Eine andere Schrift, andere Buchstaben, da muss man sich erst mal drauf einstellen. Und dann zu allem die tägliche Sorge: Wie geht es der Familie?“, gibt der Betreuer Einblicke in die Vielfalt an Problemen, die die jungen geflüchteten Menschen in Deutschland belasten. So habe der 15-Jährige anfangs nach der Schule immer gleich sein Zimmer aufgesucht, die Rollläden nach unten gelassen und sei traurig und schwermütig gewesen. Die Eltern haben dem Jugendlichen gefehlt. Nur telefonisch standen sie in Kontakt. Alle Energie wurde in der Schule und den privaten Problemen abgezapft, da blieb auch kein Platz mehr für Fußball, Fitness oder ein sonstiges Hobby.
Der ältere Bruder habe ihn oft in der Einrichtung besucht, das gab Zin Alabdin viel Halt. Aber auch, dass er neben der schulischen Förderung durch seinen Bezugsbetreuer auch bei bürokratischen Angelegenheiten jemanden hatte, der ihm zur Seite gestanden habe. Jemanden, mit dem er sich immer sehr vertrauensvoll austauschen konnte, das habe ihm sehr gut getan. Intensiv wurde der Familiennachzug vorbereitet und Termine beim Rechtsanwalt gemeinsam wahrgenommen. Schwere Entscheidungen standen in der Heimat bei seiner Familie an, da der kleine Bruder zunächst bei der Schwester in Syrien bleiben musste. Einen Tag vor dem 18-ten Geburtstag von Zin Alabdin sind die Eltern in der Darmstädter Sammelunterkunft angekommen. Seit fünf Monaten ist auch der elfjährige Bruder wieder bei den Eltern in Darmstadt. Die Familie wieder in seiner Nähe zu haben, das bedeutete die große Wende in seinem Leben in Deutschland. Er sei regelrecht aufgeblüht, so der Eindruck von Steffen Friske.
Aus einem fremden Land in Deutschland anzukommen, bedeute nicht nur die sprachlichen und familiären Probleme zu überwinden. „Zin Alabdin musste auch anfangs lernen, dass wir Deutschen anders ticken“, so sein Betreuer. „Bei seinem ersten Einkauf wollte er mit der Kassiererin den Preis der Tomaten verhandeln, so wie er es von der Heimat gewohnt war.“ Die Sprache zu lernen gehe bei jungen Menschen recht zügig, doch es braucht Jahre, bis die Kultur und das Leben in Deutschland im Herzen landen, meint der Bezugsbetreuer. Syrien sei nicht mehr seine Heimat, Deutschland noch nicht. Das brauche mehr als dreieinhalb Jahre. Doch Zin Alabdin gehe seinen Weg Schritt für Schritt und verliere sein Ziel nicht aus den Augen. Er habe gelernt, dass kleine Schritte zum Ziel führen. Zin Alabdin sei geduldig und halte Dinge aus und habe die nötige Bereitschaft, sich mit allem zu befassen, so der Caritasmitarbeiter.
Um die jungen Menschen auf ein selbstständiges Leben im eigenen Haushalt vorzubereiten, gibt es im Weihbischof-Guballa-Haus die Verselbstständigungsgruppe. Zin Alabdin war einer der ersten, der dort gewohnt hat. Das lief gut und unproblematisch, vom eigenständigen Aufstehen bis hin zur Verwaltung seines Geldes. So stand dem Schritt einer eigenen Wohnung bald nichts mehr im Wege, bis auf den Umstand, eine solche zu finden. Fast ein Jahr habe die Suche gedauert, doch nun hat er eine Wohnung, gar nicht sehr weit vom Guballa-Haus entfernt. Der junge Mann freut sich, dass es geklappt hat. Er sei sehr selbstständig geworden und er sei im Weihbischof-Guballa-Haus gut auf den neuen Schritt vorbereitet worden.
Zin Alabdin schmiedet weiter Pläne. Wenn er im nächsten Sommer seinen Realschulabschluss hat, plant er eine Ausbildung im kaufmännischen Bereich zu beginnen. Noch überlegt er aber auch, die Schule weiter zu besuchen. Er träume von der dreijährigen Aufenthaltserlaubnis, bisher hat er einen subsidiären Schutz. Die Sorge, wieder abgeschoben zu werden, sei am Anfang immer da gewesen. Der Abschiebestopp für die, die eine Schule besuchen oder eine Ausbildung machen, hat etwas Ruhe in sein Leben gebracht. Er freue sich nun auf seine Zukunft.
Mit Zin Alabdin verlässt der letzte ehemals minderjährige unbegleitete Flüchtling die Caritaseinrichtung. Seit einem Jahr hat der junge Mann bereits mit Mädchen und Jungs aus der Region zusammengelebt, die aus den unterschiedlichsten Gründen ihr Elternhaus verlassen mussten, beispielsweise, weil sie als Kinder suchtkranker oder psychisch erkrankter Elternteile eine Alternative zum eigenen Zuhause benötigen.
Auch die neuen Bewohnerinnen und Bewohner hoffen im Weihbischof-Guballa-Haus perspektivisch ein neues Zuhause und eine neue Lebenschance zu finden. Diese jungen Menschen prägen andere Sorgen, andere Belastungen als Zin Alabdin. Doch Dienststellenleiterin Kirstin Reiniger und ihr siebenköpfiges Team unterstützen und begleiten die Jugendlichen, dass auch bei ihnen aus dem Fremdsein im neuen Zuhause ein Ankommen und Vorangehen werden kann.
Hintergrundinfo:
Der Caritasverband Darmstadt e. V. erstreckt sich über die Landkreise Darmstadt-Dieburg, Odenwald, Bergstraße sowie die kreisfreie Stadt Darmstadt. Neben sechs stationären Einrichtungen unterhält der Verband über 80 ambulante Einrichtungen und Dienste, in denen derzeit über 1.500 Mitarbeitende sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind.
Der Verband bietet Hilfen für Menschen mit den verschiedensten Problemlagen: Alter, Arbeitslosigkeit, Ehe-, Familien- und Lebensberatung, Schwangerenberatung, Frühberatung für entwicklungsgefährdete Kinder, Migration, Pflege, Rechtliche Betreuung, Schulden, Seelische Krisen, Sucht, Selbsthilfe, Sozialhilfe, Kinder- und Jugendhilfe.
Die Stationäre Wohngruppe in Darmstadt, das Weihbischof-Guballa-Haus betreut mit sieben Teammitgliedern elf Kinder und Jugendliche im Alter von 12 bis 18 Jahren, die aus den unterschiedlichsten Gründen ihr Elternhaus verlassen mussten.
Zurzeit leben dort acht Mädchen und drei Jungs.
Die Jugendlichen wohnen in Einzelzimmern. Küche, Wohn- und Esszimmer, ein Gruppen- und ein Fitnessraum stehen für gemeinsame Aktivitäten sowie pädagogische Angebote zur Verfügung. Im Dachgeschoss ist für die Jugendlichen eine Wohneinheit integriert, der Verselbstständigungsbereich, mit dem Ziel, in einer kleinen Gruppe den Alltag mit sozialpädagogischer Unterstützung eigenständig zu gestalten und Lebensperspektiven zu entwickeln.
Eine Mutter-Kind-Einrichtung in Mörlenbach und das konzeptionell dazugehörige Begleitete Wohnen für junge Mütter mit Kindern im Haus des Lebens in Viernheim wird voraussichtlich im Sommer 2020 eröffnet.