Aber es gab Zeitzeug*innen, die sich auch in Bensheim als Opfer schwarzer Pädagogik der Nachkriegszeit gesehen haben.
"Es war im Sommer 2021, als wir informiert wurden, dass "Schloss Falkenhof" und damit der Caritasverband Darmstadt auf der Seite verschickungskind.de zu finden ist", berichtet Caritasdirektor Winfried Hoffmann. Verschickungskinder waren in den 50er bis 90er Jahren Kinder, die allein, ohne Eltern, in Kinderkuren, Kindererholungsheime und Kinderheilstätten verschickt wurden. Kinderkuren waren ein Massenphänomen dieser Zeit. Mehrere Millionen Kinder wurden zu meist mehrwöchigen Aufenthalten zur Erholung in Kureinrichtungen geschickt, häufig an die See, ins Mittelgebirge oder in die Alpen - aber auch nach Bensheim. Denn dort war nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Schloss, in dem die Caritas seit 1968 eine Fachklinik für suchtkranke Männer betreibt, ein "Flüchtlingskinderheim" unter der Trägerschaft des Caritasverbandes Darmstadt eingerichtet worden. Zwanzig Jahre, bis 1966, wurde dies als "Kindererholungsheim" für Jungen und Mädchen genutzt. "Über diese Zeit war uns, die wir seit 2017 und 2021 als Vorstand tätig sind, wenig bekannt", so Vorstandskollegin Stefanie Rhein. "Als sich herausstellte, dass insgesamt kaum Informationen zur Geschichte dieser Einrichtung im Verband vorlagen, entschieden wir uns dafür, die Geschichte von Schloss Falkenhof in den Blick zu nehmen. Wir wollten, dass jemand genau hinschaut, recherchiert und Dinge hinterfragt. Wichtig war uns nichts zu vertuschen oder schönzureden, unabhängig davon, was die Recherche hervorbringen sollte."
Beauftragt wurde das Büro der Erinnerungskultur mit einer professionellen Recherche. Nun geben eine Broschüre und elf Tafeln an den Hauswänden und in den Innenräumen des Gebäudes Einblicke in die Ergebnisse der umfassenden Arbeit. Historiker Holger Köhn bestätigt die freie Hand in der Recherche. Der ursprüngliche Auftrag die Geschichte des Kindererholungsheimes zu recherchieren sei noch um die Vorgeschichte erweitert worden. Diese war in den vergangene 125 Jahren sehr wechselvoll: Die Geschichte der repräsentativen Villa sei stark geprägt von Heinrich Ritter von Marx, der "Schloss Falkenhof" zum Ende des 19. Jahrhunderts als Sommerresidenz erbauen ließ, ein topmoderner Bau mit Heizung, Warmwasser und Telefon. 1938 musste er sein Eigentum jedoch wegen Geldnot an die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt verkaufen. Bis 1945 war Schloss Falkenhof nun "NSV-Müttererholungsheim", Geburtenklinik, Lazarett und Offiziers-Casino. Die Quellen seien spärlich zu dieser Zeit, eine bessere Quellenlage habe es nach 1945 gegeben, als das Gebäude als Kindererholungsheim des Caritasverbandes Darmstadt genutzt wurde. Aus ganz Deutschland seien die Kinder auf Schloss Falkenhof gekommen, die meisten aus dem Ruhrgebiet, oftmals mit dem Ziel der Gewichtszunahme. Mit über einem Dutzend Zeitzeuginnen und Zeitzeugen konnten der Historiker Dr. Holger Köhn und der Journalist Christian Hahn nach einem Zeitzeugenaufruf persönlich oder am Telefon über die Zeit auf Schloss Falkenhof sprechen.
Zeitzeug*innen berichten über positive wie negative Erinnerungen
Dabei haben sie in den Gesprächen von positiven wie negativen Erinnerungen erfahren. Die beiden Leiterinnen Frl. Winter und Frl. Hardering hätten 20 Jahre ein strenges Regiment geführt. Viele Kinder litten unter Heimweh. "Manche Kinder von einst erinnern sich an Strenge und demütigende Strafen. Sie wurden gezwungen, ihre Teller leer zu essen - teilweise auch dazu, Erbrochenes erneut zu essen", berichtet Holger Köhn von den Gesprächsinhalten. "Auch die Einhaltung der Ruhezeiten wurde streng kontrolliert, wer hier unangenehm auffiel, musste "in der Ecke stehen". Andere Formen körperlicher Gewalt sind offensichtlich nicht an der Tagesordnung gewesen. Eine Erzieherin, die ein Kind geschlagen hatte, sei laut einer Zeitzeugin umgehend entlassen worden. Es gibt keine Hinweise auf Formen sexualisierter Gewalt auf Schloss Falkenhof, wie sie sich für andere Kindererholungsheime dokumentiert findet."
Nachzulesen gibt es all dies in einer 40-seitigen Broschüre. Dort finden sich neben den Texten zu den unterschiedlichen Nutzungen auch viele Fotos, die zum Teil auch von den Zeitzeug*innen mitgebracht wurden. Auch dank der Recherche in zahlreichen Archiven konnten viele Inhalte zusammengetragen werden.
Vortragsabend am 27. Juli
Neben der Broschüre erzählen auch Zeittafeln auf dem Gelände des Falkenhofs von seiner außergewöhnlichen Geschichte. "Auch wir haben viel dazu gelernt und sind sehr froh, diesen Weg mit Experten an unserer Seite gegangen zu sein", sagt Winfried Hoffmann. Am 27. Juli lädt der Caritasverband Darmstadt um 18:30 Uhr die Bevölkerung zum Vortragsabend und anschließender Schlossbesichtigung ein. Dr. Holger Köhn wird über das Forschungsprojekt berichten und Interessierte können die Broschüre erhalten. Da die Platzzahl begrenzt ist, braucht es eine vorherige Anmeldung unter falkenhof@caritas-bergstrasse.de. Anmeldungen sind ab sofort möglich.
Mehr Infos, historische Fotos und die Broschüre "Schloß Falkenhof im Wandel der Zeit" finden Sie auf der Webseite Schloß Falkenhof