Alle Plätze waren belegt, viele mussten mit Stehtischen vorlieb nehmen: Die Auftaktveranstaltung der Darmstädter Psychiatrieimpulse zum Thema Psychiatrie in der Krise zog am 25. Oktober über 140 Interessierte ins Theater im Pädagog (TiP) in der Darmstädter Innenstadt.
Nicht nur der Landeswohlfahrtsverband Hessen war mit seiner Leitung des Psychiatrie-Fachbereichs und mehreren RegionalmanagerInnen und SozialplanerInnen vertreten, auch die Chefinnen der Sozialpsychiatrischen Dienste von Frankfurt und Wiesbaden, mehrere Vertreter der Heimaufsicht, der Landesvorsitzende der Angehörige psychisch Kranker nebst vielen Vorständen von psychosozialen Leistungserbringern von Südhessen bis Fulda waren an Bord.
Auf Initiative des Caritasverband Darmstadt e. V. sollte an diesem Abend eine kritische Bilanz gezogen, zugleich aber mit dem Offenen Dialog / Netzwerkgespräche ein innovatives beraterisches und therapeutisches Setting vorgestellt werden, welches bspw. der Caritas-Krisendienst Südhessen seit Ende 2012 einsetzt.
40 Jahre nach der Psychiatrie-Enquete Kommission des Deutschen Bundestags kann ein positives Zwischenfazit gezogen werden: Es ist in großen Teilen erfolgreich gelungen das ehemals auf die stationäre Unterbringung und Verwahrung von psychisch kranken Menschen ausgerichtete Hilfesystem in ein modernes, ambulantes Hilfesystem, zu transferieren.
Ein umfangreiches Hilfenetz von Tagesstätten für psychisch kranke Menschen, Betreutem Wohnen oder Psychosoziale Kontakt- und Beratungsstellen prägen die soziale Landkarte. Ist das Buch der fachlichen Entwicklung der Gemeindepsychiatrie somit bei seinem letzten Kapitel angekommen?
10 Jahre nach der Ratifizierung der Behindertenrechtskonvention hat sich auch die fachliche Debatte fortentwickelt. Es mehren sich kritische Stimmen, die eine Krise der Psychiatrie diagnostizieren.
Stefanie Rhein, Direktorin des Caritasverband Darmstadt e. V. fasste in ihrer Begrüßung und Eingangsstatement die kritische und auch selbstkritische Haltung zum Status Quo zusammen:
Wurde die stationäre Hospitalisierung der 70er und 80er Jahre durch eine ambulante Hospitalisierung der Gegenwart ersetzt? Wurden ambulante Sonderwelten geschaffen, in denen zwar keine Mauern, aber soziale Faktoren für einen langjährigen Verbleib im Hilfesystem sorgen? Binden gar wohlmeinende soziale Akteure die Hilfebedürftigen in einer Art und Weise an ihre Einrichtungen, die dem Aufbau eines autonomen Lebensentwurfs wenig zuträglich sind?
Karl-Heinz Schön, Leiter des Fachbereichs 207 des LWV Hessen zeigte sich in seiner Rede hocherfreut über diese Veranstaltung, welche mit ihren kritischen und auch provozierenden Fragestellungen einen neuen Raum eröffnet: Was muss verändert werden, dass Leistungen der Eingliederungshilfe die hilfesuchenden Menschen ermächtigen wieder autonome Lebensentwürfe zu entwickeln?
Somit war sozusagen die Bühne bereitet für Dr. Volkmar Aderhold, der in einem fulminanten zweiteiligen Vortrag grundlegende Systemkritik mit konkreten Alternativen verknüpfte. In einem faktenreichen ersten Teil skizzierte er die verstörende Realität vorherrschender psychiatrischer Praxis: 680% Steigerung der Aufgabenbereiche bei gesetzlichen Betreuungen und + 240% Steigerungen bei Unterbringungsverfahren nach §1906 BGB und PsychKGen in den letzten 20 Jahren, knapp 700% Steigerungen in der Verordnung von Antidepressiva und eine 478% Steigerung der Eingliederungshilfe außerhalb von Einrichtungen seit 1995 (Stationär: Steigerung von 13%), um nur eine von vielen Hotspots zu nennen. Mit den Worten des renommierten Sozialpsychiaters Prof. Dr. Bernd Eikelmann (2005) zusammengefasst: „Im günstigsten Fall hat sich die Gemeindepsychiatrie unter der Hand in die »Psychiatrie-Gemeinde« verwandelt mit Wohn-, Arbeits- und Freizeitangeboten, die für die Betroffenen nur mehr ein Surrogat des »normalen« Lebens darstellen.“
In einer abschließenden Expertenrunde diskutierten Silke Manneschmidt, Regionalmanagerin des LWV Hessen, Dr. Martin Skorsky vom Angehörigenverein Darmstadt und Volkmar Aderhold unter Moderation von Caritas-Vorstandsreferent Bastian Ripper über Möglichkeiten konkreter Handlungsoptionen. Wichtiger Aspekt hierbei: Es soll zu Beginn 2018 eine Reihe von weiteren Veranstaltungen geben, bei denen Inhalte dieses abends noch ausführlicher thematisiert und debattiert werden.
Alle Beteiligte waren sich einig: Diese Veranstaltung markiert eine zentrale Wegmarke in der grundlegenden Veränderung der psychiatrischen Hilfen in den nächsten Jahren.