Über 150 Interessierte waren der Einladung gefolgt.
Beide Psychiater hielten mit ihrer Kritik an der Psychiatrie nicht zurück
Stefan Weinmanns Kritik basiert auf seiner langjährigen Erfahrung in der psychiatrischen Akutversorgung an über zehn Kliniken in Deutschland und im Ausland sowie aus seiner Forschung zur Sozialpsychiatrie. "Die Psychiatrie, wie wir sie aktuell hier in Deutschland vielerorts betreiben, ist keineswegs die einzig mögliche. Sie resultiert nicht aus der Evidenz, die uns vorliegt, sondern ist eine Folge von historischen Fehlentwicklungen, Vorurteilen, Machtstrukturen, ökonomischen Erfordernissen", so der Autor des Buches "Die Vermessung der Psychiatrie". Solange Psychiatrie vor allem ein Ort sei, ob Klinik, Praxis oder Wohnheim, werde es immer Ausgrenzung, Stigma und Fehlentwicklungen geben. Dies führe zu seiner These: "Solange wir die Gruppe der Patienten, Betroffenen, Klienten so deutlich von uns abgrenzen und uns in Professionelle/Therapeut*innen und Hilfeempfänger*innen unterteilen, also von Wir und Sie sprechen, und dies auch in unserer Praxis leben, wird aus dem Hilfeangebot ein System von Abhängigkeit und Chronifizierung resultieren!"
Zu viele Betten - zu viele Antidepressiva
Bei allen Veränderungen sei das Krankenhaus in Deutschland weiterhin der Ort der Behandlung schwer psychisch Beeinträchtigter. Somit fließen die Hauptressourcen, 42 Prozent, in der Psychiatrie immer noch ins Krankenhaus. "Dabei bedeutet psychische Erkrankung doch nicht, dass man bettlägerig ist!" Die letzten 20 bis 30 Jahre sei die Verschreibung von Antidepressiva versechsfacht worden und Antipsychotika schrittweise erhöht worden. Trotz breiter Medikation kämen immer mehr Menschen nach einer ersten Behandlung wieder ins Krankenhaus und über all die Jahre sei es nicht gelungen, die Teilhabe-Chancen von Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen zu verbessern. "Kollektive Selbsttäuschungen prägen den Fachbereich", so der Referent.
Vom idealen psychosozialen Hilfesystem sei Deutschland weit entfernt
Autonomie oder Selbstbestimmung des Patienten, Kontinuität, Effektivität, sowie Erreichbarkeit/Zugänglichkeit, also die Hilfe dann und dort zu erhalten, wo sie benötigt wird, ein umfassendes Angebot des Dienstes, Gleichbehandlung, Zuverlässigkeit, Koordination und Effizienz, in allen Punkten sei die Realität sehr ernüchternd. "Wir haben ca. 500.00 bis 1 Million sogenannte schwer psychisch Kranke in Deutschland. Viele müssen auch gegen ihren Willen in psychischen Krisen in die psychiatrische Klinik und werden nicht im sozialen Umfeld behandelt", so seine Kritik. Seit 2001 gebe es einen Wiederanstieg der psychiatrischen Betten um 25 Prozent. Das sei über die Hälfte über dem EU-Durchschnitt. "Wir haben eine Zunahme von Drehtürpatienten - 40 Prozent Wiederaufnahmerate innerhalb eines Jahres. Die Unterbringungsraten haben zugenommen, die Zahl der forensischen Patient*innen hat sich in den letzten 30 Jahren verdreifacht. Wir haben 60.000 psychisch beeinträchtige Menschen, die in Werkstätten für behinderte Menschen verharren, deren Potentiale ungenutzt bleiben." Aufsuchende Gemeindepsychiatrie-Teams gebe es in Deutschland kaum. Dabei sei der Ort des Lebens meistens auch der beste Ort für die therapeutische Begegnung. Patient*in und das multiprofessionelle Helferteam begegnen sich dann nicht mehr im durchstrukturierten und einengenden Rahmen der Klinik, sondern auf Augenhöhe in der Offenheit des jeweiligen Lebensfeldes.
Neue Behandlungsmodelle fordert auch Volkmar Aderhold
Auch der Psychiater Volkmar Aderhold fordert seit Jahren neue Behandlungsmodelle. Er ist der Meinung, dass etwa 40 Prozent der Psychiatrie-Betten gestrichen werden könnten, wenn es stattdessen ausreichend ambulante Angebote für Menschen mit psychischen Erkrankungen geben würde. "Wir müssen weg vom Krankenhaus und rein ins Lebensumfeld der Patient*innen", sagt Aderhold. Neuroleptika sollten die psychosoziale Behandlung allenfalls ergänzen. "Es gibt genügend Konzepte und Projekte, die zeigen, dass es auch anders geht."
Je natürlicher die therapeutischen Konzepte, desto heilsamer sind sie
Der "Offene Dialog" sei ein Modell guter Praxis. Für ihn setzt sich Volkmar Aderhold seit 15 Jahren intensiv ein und qualifiziert Teams im psychiatrischen Arbeitsfeld. Entwickelt wurde die Methode in Finnland, wo es - wie in vielen anderen EU-Ländern - im Verhältnis etwa halb so viele Betten in der Psychiatrie gibt wie in Deutschland.
Im Offenen Dialog geht es insbesondere um eine Haltung in der Begegnung mit Menschen in psychischen und sozialen Krisen, um eine spezifische Gesprächsführung und Einbeziehung der sozialen Lebenswelt. Im Dialog wird zugehört, mitüberlegt, unterstützt. Die Einbeziehung der Netzwerke eröffnet Ressourcen, Verständigungsprozesse über Krisen und Lösungen werden initiiert und gefördert. So kann in schweren Krisen durch den Einbezug des persönlichen Netzwerkes hilfreich und unterstützend miteinander umgegangen werden, nichts wird über den Kopf der Menschen entschieden. Aderhold plädiert auch den Einsatz von Menschen, die selbst an einer psychischen Erkrankung litten und nun akut Erkrankten zur Seite stehen. Als Berater, Zuhörer, Seelentröster und positives Vorbild. "Diese Menschen übernehmen die Funktion eines Übersetzers in der Krise", erklärt der Psychiater. Für viele Angehörige von psychisch Kranken seien diese Erfahrungsexperten oft auch Hoffnungsträger: Weil sie aufzeigen, dass es Wege aus der Krise gibt.
Der Caritasverband Darmstadt hat als erster Anbieter in Hessen bereits mehrere Fortbildungen im "Offenen Dialog" mit Volkmar Aderhold durchgeführt und ist dabei den "Offenen Dialog" in den psychiatrischen Arbeitsfeldern umzusetzen.
Monika Daum, Leiterin des Krisendienst Südhessen, moderierte den Abend und resümierte die Ausführungen der Referenten mit der These, dass die aktuelle Situation der Psychiatrie völlig unzureichend ist und die Logik des psychiatrischen Systems auf alten Paradigmen beruht. Es schließt sich die Frage an, wie eine unzureichende Gegenwart in eine bessere Zukunft gedreht werden kann? Hier ist auch der Fachbereich Psychiatrie des Caritasverbandes um eine kritische Auseinandersetzung mit der fachlichen Arbeit gefordert, die eigene Haltung zu prüfen und zu klären, wie es gelingt den Offenen Dialog fest zu etablieren. Es geht darum kreative, innovative Ideen zu entwickeln, Neues zu denken und breite Kooperationen und Netzwerke anzuregen. In der anschließenden Diskussion bestärkte Frau Daum die Besucher*innen des Fachabends sowohl im Caritasverband, in der Stadt und der Region gemeinsame Visionen zu entwickeln, wie eine hilfreiche Psychiatrie aussehen kann: Krisenorientiert, traumasensibel, psychotherapeutisch orientiert, aufsuchend, gesellschaftlich integriert, Sozialraum- und Lebensweltorientiert, in allen sozialen Kontexten verankert, sich langfristig überflüssig machend.
Zu den Referenten:
Stefan Weinmann ist Psychiater und Psychotherapeut mit Abschlüssen in Gesundheits- und Wirtschaftswissenschaften. Er arbeitet wissenschaftlich im Bereich psychiatrische Versorgungsforschung und besitzt mehrjährige Erfahrung mit Gesundheitssystemen unterschiedlicher Länder. Seine kritische Haltung zur Psychopharmakotherapie hat er in mehreren Publikationen dargelegt. Derzeit arbeitet er als Oberarzt im Vivantes Klinikum am Urban in Berlin.
Volkmar Aderhold arbeitete 40 Jahre in der Psychiatrie, er ist Arzt für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychotherapeutische Medizin, Lehrender für Systemische Therapie und Beratung (DGSF). Er arbeitete seit 1982 in der Psychiatrie, zehn Jahre als Oberarzt in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Hamburg Eppendorf. Bis zu seiner Berentung war er Mitarbeiter des Instituts für Sozialpsychiatrie an der Universität Greifswald. Aktuell ist er als Gastwissenschaftler der Charité tätig.