Nach der offiziellen Begrüßung und Eröffnung des Fachtages, durch Norbert Schüssele, Leiter des Caritas-Gemeindepsychiatrischen Zentrums Darmstadt, sprachen Caritasdirektor Franz-Josef Kiefer und die Darmstädter Sozialdezernentin Barbara Akdeniz zwei engagierte Grußworte.
Herr Kiefer betonte die enge Verwurzelung des Verbandes in der Gemeindepsychiatrie, der schon seit Ende der 70er Jahre immer wieder neue fachliche Impulse in die regionale Entwicklung der psychosozialen Hilfen setzt. Ihm liege das Thema Arbeit und Beschäftigung für Betroffene hierbei besonders am Herzen, insbesondere bei der Schaffung von Arbeitsplätzen im 1. Arbeitsmarkt, fernab von künstlichen Sonderwelten.
Die Darmstädter Sozialdezernentin Barbara Akdeniz dankte den Caritasverband für die immer wieder gesetzten kritischen Impulse zum herrschenden Status Quo der psychiatrischen Versorgung und verspricht sich auch von der aktuellen pharmakologischen Debatte wichtige Schritte zur Weiterentwicklung des Hilfesystems.
Erster Hauptredner des Tages war Prof. Dr. Volker Beck von der Hochschule Darmstadt zum Thema "Wirklich krank oder normal verrückt? - Irrwege und Sackgassen der modernen Psychiatrie". Prof. Beck stellte die fachliche Kritik am DSM-5, dem neuen amerikanischen Klassifikationssystems psychischer Erkrankungen, in den Mittelpunkt seines Vortrags.
DSM-5 ist die Abkürzung für die fünfte Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM; englisch für "diagnostischer und statistischer Leitfaden psychischer Störungen"). Das DSM wird seit 1952 von der American Psychiatric Association (APA; deutsch: amerikanische psychiatrische Gesellschaft) in den USA herausgegeben.
Durch die neuen DSM-5 Möglichkeiten, jede Verhaltensauffälligkeit als "milde" Störung zu diagnostizieren, befürchten Kritiker eine Inflation von Diagnosen, die den Betroffenen dann lebenslang anhängen können. Prominentester Kritiker ist der US-amerikanische Psychiater Allen Frances, der ehemalige Vorsitzende der DSM-IV-Kommission. Eine Studie der University of Massachusetts Boston fand, dass 69% der DSM-5-Mitarbeiter Verbindungen zur Pharmaindustrie hatten; bei der Arbeitsgruppe zu affektiven Störungen waren es 83% und bei den für Schlafstörungen zuständigen Autoren waren es 100% (alle).
Den Nachmittag des Fachtages leitete Bastian Ripper, Vorstandsreferent im Caritasverband Darmstadt mit seinem Impulsvortrag: "Zu langsam, zu schnell, zu viel, zu wenig - zum Zustand des psychiatrischen Hilfesystems" ein, in dem er zugespitzt den für die Betroffenen oftmals schwierigen Dschungel des psychosozialen Hilfesystems skizzierte. Er schloss sich den Forderungen einiger gesetzlicher Krankenkassen an, welche die Einführung von sog. intelligenten Koordinierungsstellen fordern, welche gemeinsam mit den Betroffenen eine dezidierte Problemdiagnose erstellen und in Folge dann einen gemeinsamen therapeutischen Verlauf koordinieren sollen.
Hauptredner des Nachmittags war Dr. Volkmar Aderhold, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Greifswald, mit seinem Vortrag "Neuroleptika jenseits von Mythen in Industrie, Wissenschaft und Alltag? Versuch einer Neubestimmung".
Aderhold konstatierte, dass die meisten psychiatrischen Behandlungsmethoden bei der Hälfte der Patienten versagten. Die Psychiatrie sei in einem großen Dilemma, das sie selbst schon längst erkannt hat. In seinem Vortrag räumte er mit Mythen auf, die sich um die Arzneigruppe Neuroleptika und ihre zweite Generation, die Atypika, ranken.
Anhand klinischer Studien widerlegte er, dass die Medikamente heilen können und vor Rückfällen schützen. Schizophrenie werde zwar oft als chronische Krankheit bezeichnet, trete jedoch in 60 bis 70 Prozent der Fälle episodisch auf. Biologisch betrachtet, erhöhe sich die Dopaminausschüttung im Streifenkern des Gehirns lediglich um 13 Prozent.
Als Gehirnerkrankung mag der Psychiater das Krankheitsbild aber nicht bezeichnen, denn es sei bekannt, dass das Gehirn auch auf Risikofaktoren sozialer Art reagiere. Dazu zähle unter anderem sexueller Missbrauch.
Der Name Antipsychotika suggeriere, dass die Medikamente ähnlich wie Antibiotika eine heilende Wirkung hätten. Dies sei nicht der Fall, Neuroleptika wirkten wie der Lautstärkeregler eines defekten Radios mit Hintergrundrauschen.
Studien widerlegten auch den Mythos, dass Schizophrenie bei langer Behandlung mit Neuroleptika ausheile. Es gebe Ärzte, die Patienten raten, die Arznei lebenslang zu nehmen, weil sie nicht abhängig mache. Das sei nicht richtig, korrigierte Aderhold.
Die lange Einnahme führe aber zum allmählichen Abbau von Gehirnsubstanz. 40 Prozent der Ersterkrankten seien ohne Neuroleptika behandelbar, 60 Prozent brauchten eine geringere Dosis, als sie oft verschrieben werde, sagte Aderhold.
Dennoch mag er auf Neuroleptika nicht verzichten, es solle nur vorsichtiger mit ihnen umgegangen werden. Patienten riet er, sich ihren Zustand bei Beginn der Einnahme zu merken. Drei Monate später sollten sie innehalten und überlegen, ob sie sich jetzt besser fühlten und auch ihre Mitmenschen nach möglichen Wesensveränderungen fragen.
Beim Absetzen des Medikaments komme dem Psychiater eine wichtige Aufgabe zu. Der Patient brauche in dieser Situation soziale Unterstützung, einen Krisenplan, Entspannungstechniken und viel Schlaf. Aderholds Forderung lautete: weniger Neuroleptika, dafür eine stärkere Zuwendung zum Patienten.
Das Ende des Fachtages stellte eine von Georg Grillenmeier moderierte hochkarätige Expertenrunde zum Thema "Pharmakotherapie - zwischen Chronifizierung und Recovery" dar, in der Volkmar Aderhold, Volker Beck, Prof. Dr. Martin Hambrecht, Chefarzt Agaplesion Elisabethenstift, Dr. Bohny, Facharzt für Psychiatrie & Psychotherapie, Monika Daum, Dipl.-Sozialarbeiterin, Leiterin Caritas-Krisendienst Südhessen, Thomas Dörr, Dipl.-Sozialpädagoge Caritas-Gemeindepsychiatrisches Zentrum Darmstadt und Anja Schneider, Genesungsbegleiterin (Expertin aus Erfahrung) vom GPZ Darmstadt mit dem Auditorium in ein in jeder Hinsicht inspirierendes Gespräch kamen.
Bastian Ripper