Heike Richter ist Apothekerin in Roßdorf. Zu ihr kommen Menschen mit den unterschiedlichsten Sorgen und Nöten. Achtsam schaut sie darauf, was ihre Kunden an Medikamenten erhalten. Bei manchen kommt auch schon mal das Gefühl auf, ihnen besser mit einem Hilfeangebot als mit einem Medikament helfen zu können. Doch wie den kurzen Moment richtig nutzen? Welche Hilfemöglichkeiten benennen? Diese Probleme sprach die engagierte Apothekerin bei einer Begegnung mit den Verwaltungsleitungen der Rehakliniken zur Behandlung von Suchterkrankungen in Südhessen konkret an.
Stefanie Bruckner-Weber, Verwaltungschefin in Haus Burgwald und Karl-Heinz-Schön, Verwaltungsleitung Klinik "Schloß Falkenhof" waren sogleich an einem Austausch interessiert, denn es besteht Handlungsbedarf: Zwar gibt es keine genauen Zahlen über die Anzahl an Medikamentensüchtigen, doch laut Schätzungen von Suchtexperten sind es in Deutschland circa 1,9 Millionen Menschen. Zusätzlich geht man von einer hohen Dunkelziffer Gefährdeter in vergleichbarer Größenordnung aus. Die meisten von ihnen sind abhängig von Schmerz-, Schlaf- und Beruhigungsmittel. Weniger als ein Prozent jedoch finden den Weg zur Entwöhnungstherapie. Auch in Haus Burgwald und der Klinik Schloß Falkenhof suchen kaum Medikamentenabhängige um Hilfe.
So starteten die Apothekerinnen des Pharmazeutischen Qualitätszirkel Südhessen vor rund einem Jahr mit der Beauftragten der Apothekerkammer für Südhessen und den beiden Kliniken ein Kooperationsprojekt zum Thema Medikamentenabhängigkeit. Intensiv wurde beraten und diskutiert, wie man auf das Thema aufmerksam machen kann, Unterstützung zusichern kann, welche Wege zu Beratung und Hilfe man aufzeigen und ebnen kann und was man Kollegen an die Hand geben kann, damit sie Wegweiser im Gesundheitswesen sein können. Alles mit dem Ziel, betroffenen Menschen zu einem Leben mit mehr Lebensqualität zu verhelfen.
"Nehmen wir zum Beispiel Schlaf- und Beruhigungsmittel aus der Gruppe der Benzodiazepine, wie z. B. Diazepam oder Oxazepam. Anfangs wirken diese meist sehr gut. Deswegen werden die sogenannten Benzos gern verschrieben und viel genommen. Aber schon nach wenigen Wochen setzt Gewöhnung ein und wenn die Patienten das Medikament weglassen haben sie bereits Entzugserscheinungen. Diese sind Unruhe, Schlafstörungen und Angstzustände. Deshalb werden die Mittel immer weiter eingenommen, ein Teufelskreis beginnt", so Heike Richter vom Pharmazeutischen Qualitätszirkel Südhessen. Zusätzlich bestehe bei älteren Menschen wegen der Muskelentspannung ein gefährliches Risiko der Sturzgefahr. Auch die Persönlichkeit verändere sich und es werde ein Zusammenhang zwischen Benzodiazepineinnahme und Alsheimer diskutiert.
Viele Senioren sind betroffen, manche nehmen seit über 30 Jahren Schlaf- und Beruhigungsmittel. Aber auch schon für manches Schulkind fragen besorgte Mütter nach Mitteln, um die Aufregung vor einer Arbeit zu verringern. "In letzteren Fällen gelingt es noch leichter in Beratungsgesprächen die Mütter von vernünftigen Lösungen zu überzeugen, doch im Falle von jahrzehntelangen Abhängigkeiten braucht es ein Netzwerk von Apothekern, Ärzten und Suchthilfeeinrichtungen, um dieses komplexe Problem ändern zu können", so die Apothekerin.
Da beratende Gespräche in der Apotheke der erste Schritt zu Denkanstößen sein können, wurde ein Flyer mit Hilfeangeboten entwickelt, der Betroffene ermutigen kann, die Medikamenteneinnahme zu überdenken und mehr Informationen und auch Hilfe zu bekommen. Unterstützt wurde das Kooperationsprojekt sehr engagiert von Dr. Stephanie Pfeuffer, Regionalbeauftragte der Landesapothekerkammer Hessen, denn "Apothekerinnen und Apotheker haben eine sehr wichtige Funktion im Hinblick auf die Erkennung und Verhinderung eines Arzneimittelmissbrauchs und einer Medikamentenabhängigkeit. Sowohl bei der Abgabe ärztlich verordneter Arzneimittel als auch bei der Selbstmedikation mit apothekenpflichtigen Arzneimittel stellen sie die einzige Sicherungsfunktion dar."
Auch auf dem Deutschen Apothekertag 2014 habe die Hauptversammlung Deutscher Apotheken einstimmig beschlossen, sich verstärkt in die Thematik Benzodiazepin-abhängiger Patienten einzubringen. Daher organisierte Pfeuffer für 2015 für Apothekerinnen und Apotheker in Südhessen eine Schulung durch Dr. med. Carlo Schmid, um diese für das Problem zu sensibilisieren und in die Suchtbekämpfung miteinzubeziehen. Als Erleichterung für das Beratungsgespräch finden sich im Flyer die Hilfeangebote der Region, so dass die Betroffenen in einer Auswahl an offenen Sprechstunden sofortige Hilfe erfahren können. Die Beratungen sind unverbindlich, anonym und kostenfrei, gleich ob eine Sucht vorliegt oder nur der Verdacht besteht. Für Karl-Heinz Schön war die Zufallsbegegnung mit Heike Richter ein echter Glücksfall. "Gerade ältere Menschen besuchen häufig dieselbe Apotheke. Da lohnt es sich genau hinzuschauen und im Falle eines Missbrauchs behutsam dem Patienten Wege aufzuzeigen, sanft von diesen Mitteln wieder loszukommen. Bei manch einem kann sogar der Schritt zum Missbrauch verhindert werden. Diese Chance haben wir in unseren Suchthilfeeinrichtungen nicht, da ist die Sucht leider schon vorhanden." Studien des auf Suchtpharmazie spezialisierten Apothekers Ernst Pallenbach zeigen im Rahmen eines Pilotprojektes, dass Patienten auch nach 30 jähriger Abhängigkeit am Ende ganz ohne Benzodiazepin auskamen und sich besser fühlten."
Im Alleingang ist es schwierig, einen Patienten von einer oftmals langjährigen Abhängigkeit zu befreien. Daher kann das Netzwerk zwischen Ärzten und Apothekern, Angehörigen und Suchtberatungsstellen zum Wohle des Patienten nicht eng genug sein. Daran werden wir auch weiter arbeiten, " so Stefanie Bruckner-Weber.